Wie die erste Strohballensiedlung der Schweiz entstand
Auf dem Bombasei-Areal in Nänikon wurden 70 Jahre lang Dekorationsartikel für Konditoreien produziert. 2019 wurde das Gebäude zurückgebaut. An seiner Stelle entstand die erste Strohballensiedlung der Schweiz, die im Februar 2022 einen Nachhaltigkeitspreis erhielt.
Autorin: Tanja Frei
Auf dem ehemaligen Bombasei-Areal in Nänikon wurde ab 2019 die erste Strohballensiedlung der Schweiz realisiert.

Aussicht nach vorne und nach hinten gegen den Innenhof bringt viel Grün und Licht in die Wohnungen. Foto: Beat Brechbühl
Unkonventioneller geht Bauen kaum. Die Strohballensiedlung, die auf dem ehemaligen Bombasei-Areal in Nänikon steht, strotzt vor Nachhaltigkeit. Holz, Stroh, Lehm und Kalk machen das Mehrfamilienhaus Im Vogelsang mitten im Dorf an der Jean-Hotz-Strasse absolut einzigartig. So einzigartig, dass ihm die Stadt Uster im Februar 2022 ihren allerersten Nachhaltigkeitspreis verliehen hat. Für die ausführenden Architekten aus Trun im Kanton Graubünden ist der Nachhaltigkeitspreis eine grosse Wertschätzung für ihre nachhaltigen und innovativen Werte. Auch für die Bauherrschaft ist der Preis eine grosse Überraschung.
«Bereits in den 1990er Jahren begab sich mein Vater Werner Schmidt, der Gründer des Ateliers Schmidt, auf die Suche nach einem nachhaltigen Dämmmaterial», erzählt Paul Schmidt, Geschäftsführer und Architekt beim Atelier Schmidt. Für Schmidts Vater war der Fakt, dass der Körper in einem guten Schlafsack genügend Wärme generieren kann, selbst wenn er im Winter draussen im Zelt liegt, es rundherum schneit und eisig kalt ist, faszinierend und der grosse Ansporn für diese Idee. Damit diese Idee umgesetzt werden kann, muss der «Schlafsack des Gebäudes» möglichst dick sein. Auf der Suche nach einem hochwertigen Dämmmaterial mit geringem ökologischem Fussabdruck sind die Architekten auf den Baustoff Stroh gestossen.
Im Forschungsprozess in Bezug auf solche ökologischen Baumaterialien ging das Architekturbüro verschiedene Themen an. Zuerst nahm es Styropor-Dämmungen unter die Lupe. «Styropor dämmt zwar sehr viel Wärme, braucht jedoch in der Produktion zu viel Energie, was wiederum nicht sinnvoll ist», erklärt Paul Schmidt weiter. Auch Holzwolle sei ein Thema gewesen. «Holzfaserdämmungen sind zwar sehr ökologisch, aber bei der angestrebten Wanddicke verhältnismässig teuer.»
Nischenprodukt für die Schweiz
Einige Zeit später bekam Vater Werner Schmidt ein Buch über Strohballenbau geschenkt. «Dieses hat er sich angesehen, dachte sich jedoch zuerst, ‹was für ein Blödsinn, das funktioniert doch nicht›», lacht Paul Schmidt. Das Thema liess ihn trotzdem nicht mehr los. Kurzerhand stellte Werner Schmidt eine Wand aus Strohballen auf, die er auf Herz und Nieren testete. Und baute im Jahr 2001 das allererste Strohballenhaus in Disentis. Ein Haus, das bis heute ohne Zentralheizung auskommt und hinter dem eine sehr zufriedene Bauherrschaft steht.
In den USA waren das Bauen und das Dämmen mit Strohballen bereits im 19. Jahrhundert eine weitverbreitete Technik. Auch in Nachbarländern wie Frankreich ist dies schon lange keine Neuigkeit mehr. «Der Energieaufwand ist bei lokal produzierten Strohballen sehr tief. Diese fallen beim Getreideanbau sowieso an. Somit führten wir ein landwirtschaftliches Nebenprodukt einer sinnvollen Verwendung zu, indem wir es als Baustoff nutzen», freut sich Paul Schmidt, der das Geschäft seines Vaters just zum Baustart der Strohballensiedlung in Nänikon und somit die Leitung des Projekts im Jahr 2019 übernommen hat

Modernes Wohnen hinter Strohballenwänden: Die Strohballensiedlung in Nänikon strotzt vor Nachhaltigkeit. Foto: Damian Poffet
Es sollten Wohnobjekte entstehen, die nachhaltig und ökologisch sind – für das Wohlbefinden der Bewohnenden. (Foto: Beat Brechbühl)

Während der Aushub und der Bau der Tiefgarage fortschritten, produzierte ein Zimmereiunternehmen die Strohballenelemente in seiner Werkstatt.
Foto: Damian Poffet
Strohballen standen bald im Fokus
Im selben Jahr entschied die Eigentümerschaft des Bombasei-Areals in Nänikon, die seit 2017 stillgelegte Fabrik rückzubauen und eine in jeglicher Hinsicht nachhaltige Überbauung zu realisieren. Aus Sicht der Umwelt waren dabei drei Aspekte entscheidend: die Herstellungsenergie der Bauprodukte, der Energieverbrauch des Gebäudes im Betrieb und die Entsorgung der Baumaterialien in ferner Zukunft. Im selben Jahr entschied die Eigentümerschaft des Bombasei-Areals in Nänikon, die seit 2017 stillgelegte Fabrik rückzubauen und eine in jeglicher Hinsicht nachhaltige Überbauung zu realisieren. Aus Sicht der Umwelt waren dabei drei Aspekte entscheidend: die Herstellungsenergie der Bauprodukte, der Energieverbrauch des Gebäudes im Betrieb und die Entsorgung der Baumaterialien in ferner Zukunft.
Es sollten Wohnobjekte entstehen, die nachhaltig und ökologisch sind und hinter dessen Wänden das Wohlbefinden der Bewohnenden erhöht wird. Ausserdem sollte der alte Baumbestand auf dem Areal bewahrt werden – das war die Forderung der Stadtbildkommission. Dass die Siedlung aus Strohballenelementen gebaut werden würde, war anfänglich jedoch keine Anforderung. Das Konzept überzeugte aber sofort. Erste Inspiration holte sich die Bauherrschaft damals aus Deutschland, wo sie zum ersten Mal Gefallen an einem Strohballenhaus fand. So entstanden dann an der Jean-Hotz-Strasse 22 Wohnungen in sechs Reihenhäusern, in welchen insgesamt 420 Tonnen Stroh verbaut wurden.
Speziell in jeglicher Hinsicht
Die Siedlung Im Vogelsang wurde dank den Strohballen nicht nur umweltfreundlich gebaut – das Bauen mit Holz und Stroh beschleunigte gar den Bauprozess. Zwischen dem Beginn des Rückbaus und dem Einzug der letzten Mieterinnen und Mieter vergingen gerade einmal 16 Monate. Während der Aushub und der Bau der Tiefgarage fortschritten, produzierte ein Zimmereiunternehmen zeitgleich die trohballenelemente in seiner Werkstatt und transportierte diese nach Fertigstellung zur Liegenschaft, wo sie dann eingesetzt wurden. Für die Anwohnenden war zunächst zwar kein wesentlicher Fortschritt auf der Baustelle feststellbar, in Kürze standen dann aber plötzlich alle fertigen Häuser.
Jede der Wohnungen verfügt dank einem Laubengang über einen privaten Hauseingang mit Aussicht nach vorne und nach hinten gegen den Innenhof – aber auch über einen öffentlichen Teil, der einen dörflichen Charakter verspricht. «Für uns hat die Siedlung ganz klar Dorfcharakter. Wichtig war uns aber auch, dass sich die Bewohnenden nicht abgeschottet oder die Nachbarn nicht ausgeschlossen fühlen», betont Schmidt. Ein grosses hölzernes Sonnendeck dient den Mietern und Eigentümern als halbprivater Aussenraum zum gemeinschaftlichen Beisammensein. Ein weiterer öffentlicher Bereich, der für alle Anwohner zugänglich ist, entstand unter dem Sonnendeck. Mit einem idyllischen Vorgarten zieht sich dieser die Hauseingänge entlang bis zur Briefkastenanlage und bietet Raum für spontane Treffen mit der Näniker Nachbarschaft.
Die Strohballensiedlung in Nänikon ist nur ein Beispiel dafür, wie nachhaltiges Bauen aussehen kann. Die Verwendung von Strohballen als Baumaterial kann auch in anderen Bauvorhaben umgesetzt werden, um ökologisch nachhaltige Gebäude zu errichten. Schweizer Bauherrschaften stünden dem Bau aus Strohballenelementen jedoch noch etwas skeptisch gegenüber. «Stroh ist kein Material, mit dem konkret geworben wird. Deshalb wird es von Beratern, Verkäufern oder baugewerblichen Schulen auch nicht sonderlich thematisiert. Dementsprechend wenig weiss man darüber», erklärt Schmidt. Dabei seien die Baukosten vergleichbar mit denjenigen von Minergiehäusern.

«Schweizer Bauherrschaften stehen dem Bau aus Strohballenelementen noch etwas skeptisch gegenüber», sagt Architekt Paul Schmidt. Foto: Damian Poffet

Jede der Wohnungen verfügt dank einem Laubengang über einen privaten auseingang. Der öffentliche Teil verspricht einen dörflichen Charakter. Foto: Beat Brechbühl
Die Geschichte von Bombasei
Die Wurzeln der Familie Bombasei liegen im Südtirol. Grossvater Franz Bombasei war von Beruf Zuckerbäcker und bewies grosses Talent und Freude im Zuckerhandwerk. Sein Können gab er bereits 1913 in Kursen weiter. Daraus entwickelte sich in Niederuster die kleine Familienunternehmung mit Wachstumspotenzial.
1940 übernahm die zweite Generation, Sohn Franz mit Gertrud, den Betrieb, und sechs Jahre später folgte der Umzug nach Nänikon. Unermüdlich entwickelten die beiden diverse Verfahren zur optimalen Fertigung von mehrfarbigen Marzipanschildern, bedruckten Schokoladeplaketten und handmodellierten Marzipanrosen. Schon bald war die Firma Bombasei weit über die Schweiz hinaus bekannt und beschäftigte hierzulande 60 bis 80 Mitarbeitende.
Ende 1975 übernahm mit dem Ehepaar Aeberli-Bombasei die dritte Generation. Eine stetige Weiterentwicklung, Rationalisierungen und die Gründung einer verlängerten Werkbank in Ungarn sind einige Themen aus jener Zeit.
In der vierten Generation wurde das operative Unternehmen 2004 an das Ehepaar Weiss verkauft. Seit Sommer 2017 stand der Betrieb still. Die Vorbereitungen für den anstehenden Wandel des Bombasei-Areals «vom Zucker zum Stroh» lief jedoch gleichzeitig auf Hochtouren.